Ach, mein Ruhrgebiet. Was mache ich nur mit dir. Ich bin nicht im Revier geboren und wahrscheinlich hadere ich deshalb so sehr mit deiner „rauen Schönheit“.

Ja, es stimmt. Du bist grüner als dein Ruf es behauptet. Die Ruhr, die Seen, die Berge, Hügel, Felder, Wälder und Wiesen. Aber idyllisch wirkst du nicht auf mich. Lebendig, bodenständig, ehrlich, so scheinen mir Land und Leute. Das Lebendige, das gefällt mir. Sehr sogar. Hier kann man nichts verpassen, hier ist man ja mittendrin. Und diese Mitte erscheint mir zentraler, als es Berlin-Mitte je sein könnte.

Ja, richtig, da kommt noch ein Aber. Wo ist denn deine eigene Mitte? Ich bin in Hagen zur Schule gegangen, wir fuhren zum Feiern nach Dortmund, zum Einkaufen nach Oberhausen, ins Theater nach Bochum und zum Jobben nach Wuppertal.

Ich bin in meiner alten Schule aufgetreten. Und das Merkwürdige ist, dass ich mich Zuhause gefühlt habe. Nicht emotional, aber körperlich. Mein Körper hat sich erinnert an tausende Male, die ich dieselben Flure entlanggelaufen bin. An die Freude, wenn ich die großen Treppen herabstürzte auf den Schulhof, in das Abenteuer Pause. An das coole Rumlungern der späteren Jahre, wo es nicht mehr um Völkerball sondern um Verbote, die es zu brechen galt, ging.
Meine Schulzeit ist eine ganze Welt, die nach meinem Abitur wie Atlantis im Meer meiner Erinnerungen verwunden ist – und nun unvermittelt wieder daraus auftaucht. Wer war ich damals, wer bin ich heute? Ich bin immer sehr gerne zur Schule gegangen – es gab ja nicht nur meine ungeliebten Fächer Mathe und Russisch, sondern auch Plastizieren, Holzarbeiten, Schmieden, Theater, Musik, Projekte, kurz: Abenteuer! Meine Freude über die Hauptrollen in den Theaterstücken. Wer weiß, ob ich ohne diese Schule so einen leichten Zugang zu Gedichten und zur Bühne bekommen  hätte.

Am eindrücklichsten sind mir aber nicht die Unterrichtsinhalte in Erinnerung geblieben, sondern das soziale Miteinander. Welche Lehrer ich geliebt, provoziert oder verteidigt habe. Welche Rolle ich in der Klasse ausgefüllt habe. Das eine Jahr, in dem ich gedisst wurde. (Vielleicht war es auch nur ein Monat, es kam mir auf jeden Fall wie eine Ewigkeit vor.) Die leidenschaftlichen Diskussionen, die coolen Jungs, die an der Ennepe kiffen waren, die hippe Mädelsclique – und ich, mal dagegen, mal dafür, aber immer: laut!

Ich erkenne mich wieder, wenn ich heute auf dem leeren Schulhof auf das Mädchen zurückschaue, das hier zehn Jahre ein und aus ging. Ich habe seitdem einen langen Weg zurückgelegt. Ich habe das Ruhrgebiet verlassen und gelernt, dass die coolen  Jungs nie wirklich cool waren, dass die hippen Mädels sich auch für ihre Klamotten schämen, dass man eine Diskussion auch leise für sich entscheiden kann.

Und nun stehe ich mit Mitte dreißig auf dieser Bühne, freue mich über jeden Lehrer, der noch an der Schule ist, der noch aussieht wie damals, und sich noch gleich kleidet, redet, bewegt. Wie ein kleines Kind gleiche ich ab – überwiegt das Bekannte gegenüber dem Neuen? Gehöre ich noch hierhin? Und wie ein Kind bin ich enttäuscht über meine Deutschlehrer, die nicht auftauchen, obwohl sie mein Leben doch entscheidend geprägt haben. Hört das denn nie auf? Wann ist man denn unabhängig?

Vielleicht nie. Vielleicht ist das ja auch gut so. Und ich will in alle Richtungen schauen, nach vorne, zurück und nach nebenan.

So, mein liebes Ruhrgebiet, und da kommst du wieder ins Spiel. Du streckst dich auch in viele Richtungen. Wo auch immer sie ist, deine Mitte, du wirst sie finden. Denn du bist nicht unterzukriegen, nicht stillzulegen. Ich glaube, wir  haben doch einiges gemeinsam; wir können uns abrackern, wir mögen keinen falschen Glitzer und: wir können laut!

Und leise wünsche ich dir: Glückauf!

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Hömma und wohh!

 

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