Ich bin in Braunsbach aufgetreten. Ohne Gage. Der kleine Ort in Baden-Württemberg hat im Mai durch anhaltenden Starkregen eine Überschwemmung erlebt, welche die 2500 Bewohner noch lange beschäftigen wird.

Äußerlich geht es um Wiederaufbau. Damit verbunden sind zahlreiche Auseinandersetzungen – mit den Versicherungen, den Behörden, den Bauarbeitern. Innerlich geht es darum, Schlaf zu finden, auch wenn der Regen auf das Dach prasselt. Nicht die Nerven zu verlieren, auch wenn das Piepen der Räumungsfahrzeuge nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen ist. Meine Gastgeberin ist mit mir durch den Ort gefahren und hat auf einzelne Häuser gezeigt: „Hier ist das Wasser dran vorbeigeflossen, dafür hat es dieses Haus komplett mitgerissen. Warum hier und nicht dort, dass kann kein Mensch sagen“. Als sie von ihren Nachbarn erzählt, die stundenlang die Haustür zugedrückt haben und sich wohl nur dadurch retten konnten, zittert ihre Stimme und ich frage nicht weiter.

Zu meinem Auftritt kommen ca. 50 Menschen in den schönen Gewölbekeller. Kinder flitzen durch die Reihen, es wird viel gelacht. Als ich Schillers Bürgschaft spreche bleiben mir die Worte fast im Halse stecken: „Da gießt unendlicher Regen herab, von den Bergen stürzen die Quellen, und die Bäche, die Ströme schwellen“ – an diese Zeilen hatte ich gar nicht mehr gedacht, sonst hätte ich die Ballade ausgelassen. Spannung liegt in der Luft, ich bemühe mich danach umso mehr, dass Publikum zum Lachen zu bringen. Denn mein Eindruck ist, dass das heute Abend am meisten gebraucht wird.

Eigentlich wollte ich mich über Heimat austauschen, aber das ist ein absurdes Vorhaben, dass sehe ich vor Ort. Die Braunsbacher haben alle zu kämpfen – und jeder steckt persönlich trotzdem in einer komplett anderen Situation – je nachdem, wie groß der (materielle) Schaden ist.

Eine Katastrophe, so unerwartet sie über alle hereinbrechen kann hat nicht automatisch die gleichen Konsequenzen für alle.

Dass Donald Trump nun Präsident der vereinigten Staaten ist, wird nicht für alle eine Katastrophe bedeuten. Ob es mein persönliches Leben beeinflussen wird, dass weiß ich noch nicht. Seine Wähler versprechen sich sogar Vorteile von ihm. Überall sieht man das bearbeitete Bild der Freiheitsstatue, die ihr Gesicht in den Händen verbirgt. Ein Ausdruck von Verzweiflung und Angst. Ich frage mich: wem hilft diese Angst? Angst ist zerstörerisch, sie macht klein und mutlos.
Eine Freundin schrieb mir heute Morgen: „Das Kollektiv scheint es weltweit so zu wollen. Wo ist da nur unser Platz?“

Unser Platz – in diesen beiden Worten steckt so viel Sehnsucht die ich teile, aber auch so viele Fragen: Wer hat uns unseren Platz auf diesem Planeten gegeben? Wer hat entschieden, dass ich mehr Platz als dieser und weniger als jener bekomme? Wer hat manchen Braunsbachern ihr Dach über dem Kopf genommen und es anderen gelassen?   Die Umstände? Ich selbst? Der Klimawandel? Gott?

Mein Platz ist in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Aber Heimat liegt für mich in der Zukunft. Ich habe sie selbst dorthin verlegt, nach meiner Reise, im letzten Kapitel meines Buches und in meinem Leben. Damit ich sie nicht verlieren kann. Und damit ich sie erschaffen kann, jeden Tag aufs Neue. Es ist eine Idee, ein Gedanke, eine Haltung – gegen die Angst. Zu Hause kann ich mich in der Gegenwart nicht fühlen. Aber die Zukunft, die lässt sich beeinflussen. In der Zukunft kann Heimat sein. Also baue ich daran, mit meinen Mitteln.
Und wenn die Freiheitsstatue ihren Kopf in den Sand steckt, ich werde bauen!

 

Am Abend

Weisst du denn – wenn auf Baum und Strauch
Das Astwerk zittert und sich sträubt,
Und wenn der leicht gewellte Rauch
An einer Wetterwand zerstäubt –

Ein scheuer Vogel ohne Laut
An dir vorbei die Flügel schlägt,
Und Wolke sich an Wolke baut –
Wohin dein wilder Wunsch dich trägt?

Weisst du denn, wenn nun alle Welt
Sich eng an Hof und Heimstatt schmiegt,
Und deine Sehnsucht dich befällt, –
Wo deine eigne Heimat liegt?

Hedwig Lachmann

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