Sylt fordert mich. Schon immer, aber dieses Mal ganz besonders. Das Himmelfahrtwochenende stand vor der Tür und ich durfte ein paar sonnige Tage auf einer von Deutschlands beliebtesten Insel verbringen.

Ich finde Sylt wunderschön. Die Natur ist voller Farben, Licht und Weite.

Trotzdem: es wirkt auf mich zeitweise wie eine teure Bar mit Ausblick. Auch an diesem langen Wochenende brausten unzählige SUVs die Insel rauf und runter, Keitum wurde zur Kö und die Fahrradwege gehörten denen, die eigentlich kein Fahrrad fahren.

Man kann natürlich ausweichen, sich azyklisch verhalten und bei Wolken und Wind an den leeren Strand gehen. Aber trotzdem: Auf diesem Eiland zeigen sich mögliche Konsequenzen unseres Systems aus Angebot und Nachfrage mit absoluter Deutlichkeit. Ein paar Beispiele:

Wer als Sylter ein Grundstück in guter Lage hat, verkauft es meistens. Warum auch bleiben, wenn man so unglaublich viel Geld dafür bekommt und sich anderswo niederlassen kann.

Kinder, die hier in eher bescheidenen Verhältnissen aufwachsen, werden sich niemals Wohnraum auf Sylt leisten können, sofern er nicht vererbt wird.

Eine Erbengemeinschaft, z.B. eine Großfamilie, die Omas und Opas Ferienhaus erhalten möchte muss darum bangen, dass nicht eines Tages einer seinen Anteil haben möchte – denn die anderen könnten ihn bei diesen Preisen niemals ausbezahlen. Bliebe nur der Verkauf.

Das Service-Personal wird in sogennannten „Sylt-Garagen“ untergebracht. Einheimische vermieten ihre Garagen als Wohnraum.

Ein Kellner im richtigen Laden muss nur eine 3-Monats-Sylt-Saison arbeiten und  hat den Rest des Jahres frei. Das Trinkgeld reicht aus.

Das alles fühlt sich nicht gesund an. Mich zumindest versetzt es nicht in Urlaubslaune.
Wie geht es der Insel? Wo ist denn das reale Leben?

Ich hätte es nie gefunden, hätte Sylt mich nicht zu sich eingeladen.

Zwei Schmuck-Gestalterinnen, eine Gästeführerin und eine Künstlerin haben eine Veranstaltung organisiert und mein Auftritt war der Anlass.

Kurzerhand wurde ein altes Haus mit Meerblick, das auf seinen Abriss wartet, als Bühne umfunktioniert, Stühle aufgestellt, Wein bereitgestellt und dann harrten wir der Dinge die da kommen sollten. Und sie kamen: Über 60 gutgelaunte echte Sylter, die hier leben, arbeiten und ihre Kinder großziehen.

Eloquent sind sie, witzig, herzlich und aufgeschlossen. Und hatten sichtlich Spaß an dem Projekt Wandermärchen.

Wenn die Menschenflut kommt, dann ziehen wir uns zurück, sagten einige und klangen nicht unzufrieden. Trotzdem: wie es weitergehen soll, wo das alles hinführt, weiß keiner so genau. Denn wenn bezahlbarer Wohnraum verschwunden ist, wenn die Natur zur elitären Kulisse wird, wenn Kinder keinen Platz mehr haben, was hat die Insel dann für eine Zukunft?

Und automatisch stellt sich hier die Frage nach dem Wert der Heimat – was zählen Elternhaus, Kindheitserinnerungen, der Sommer am Strand, wenn man sein Grundstück auf der Straße für Millionenbeträge verkaufen kann? Und damit seiner Familie vielleicht mehr bieten kann, als das Leben im Heimatort. Und was ist Heimat überhaupt, ist es ein Haus, ein Ort? Oder kann ich sie herstellen, erarbeiten, im Herzen tragen?

Fragen, denen es gilt auf dieser Reise auf die Spur zu kommen.

Und schließlich: Sind wir nicht alle eine Insel?

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Gehört:

Wir dürfen uns nicht wundern, wenn sich manche so aufführen, als hätten sie die Insel gekauft. Das haben sie ja auch. Und eine Menge dafür bezahlt.

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