Ich bin ins Sauerland gefahren – das mag für die wenigsten aufregend klingen, für mich ist es das. Ich habe im Sauerland gelebt, zwischen meinem 9. und dem 14. Lebensjahr. Es war kein Spaß. Ich habe Anschluss gesucht, aber nicht gefunden, weder beim Reiten noch beim Turnen noch beim evangelischen Tischtennis. Mit vier Kindern, die allesamt über 50 Kilometer mit dem Zug zur Waldorfschule fuhren, keine Barbiepuppen hatten und vor allem keinen Fernseher, war meine Familie einfach zu anders.

Meine Mutter ist im Sauerland geboren. Ich bin vielleicht auch hingefahren, um sie dort zu suchen. Aber gefunden habe ich sie nicht. Dafür etwas anderes.

Die Fahrt durch das Lennetal ist bedrückend. Der Fluss schlängelt sich durch dunkle Täler, an ihm klebt ein Industrieklotz nach dem anderen. Die Orte am Wegesrand wirken grau und den Bergen nicht gewachsen. Irgendwann öffnet sich das Tal und ich hole Luft. Und fahre fast automatisch zu dem Haus, in dem ich die fünf „dunklen Jahre“, wie ich sie im Stillen nenne, verbracht habe.

Der Ort ist beschaulich, die Straße wohnlich, auch wenn sie an der einen Seite vom Wald und an der anderen von Bahnschienen begrenzt wird. Da, das Haus. Mit klopfendem Herzen stehe ich davor. Fast wollen mich meine Erinnerungen überrollen, meine damalige Hilflosigkeit scheint greifbar. Als wäre sie in diesem Haus zuhause. Als würde ich ihr direkt in die Augen schauen.

Ich klingele.

Erst kommt der Mann, dann die Frau. Ja, ich dürfe Fotos vom Garten machen, wann ich denn hier gewohnt habe, ach ja, die vier Kinder, ein wissender Blick. Auch 20 Jahre später ist die Kinderschar noch ein Thema.

Ich gehe die Straße hinunter, nicht unbemerkt von den Nachbarn. Da haben wir den Staudamm gebaut, da bin ich immer zu stundenlangen Streifzügen in den Wald abgetaucht, da wohnte mein einziger Freund, bei dem es Limo mit Glasuntersetzern und einen großen Fernseher gab.

Und das war es dann auch schon. Klein wirkt die Straße. Und klein wirkt die ganze Stadt. Das wird mir klar in den zwei Tagen, in denen ich hier zu Gast bin.

Früher eine ganze Welt, in meiner Erinnerung ein ganzes Universum – und in der Realität: klein. Nur ein kleiner Teil meines Lebens. Fünf Jahre von 35.

Ich bin trotzdem der Mensch geworden, der ich heute bin. Oder gerade deshalb, wer weiß das schon. Aber diese Straße, diese Stadt: sie hat keine Macht über mich. Ich bin darüber hinausgewachsen.
Das zumindest hätte meine Mutter gesagt.

Was suche ich sie auch im Sauerland – sie ist doch viel mehr in mir, als irgendwo sonst auf der Welt.

Als ich das Städtchen hinter mir lasse und mich lautstark durch die idyllische Berglandschaft kämpfe, habe ich Rückenwind. Das erste Mal seit Hamburg.

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