Am Montag habe ich das Manuskript von Deutschland. Ein Wandermärchen dem Ludwig-Verlag zugeschickt. Die letzten Wochen gab es nichts Wichtigeres. Ich habe keine Freunde mehr getroffen, am Ende nicht mal mehr telefoniert. Von morgens um zehn bis abends um zehn habe ich geflucht, gekichert, auf die Tasten eingehämmert. Es ist erstaunlich, wie sehr ich noch einmal in die Reise eintauchen und mich an jedes Detail einer Strecke erinnern konnte: das Wetter, meine Stimmung, die Landschaft, die Gastgeber, das Publikum. Ich habe versucht, jeder Situation gerecht zu werden, ihre Essenz zu beschreiben und musste mir täglich beim Scheitern zusehen. Man kann ein Erlebnis nicht hundertprozentig schriftlich vermitteln, es wandelt sich in diesem Prozess. Also habe ich eine neue Reise angetreten, zusammen mit meinem Leser, meinem unbekannten Begleiter.

Diese zweite Reise in meinem Kopf war mindestens genauso intensiv wie die Radreise. Mir wurde bewusst, was für ein Schatz meine Erinnerungen sind und dass ich jederzeit auf sie zurückgreifen kann.
Nun ist die Hauptarbeit geschafft, wenn auch das Buch längst noch nicht druckreif ist. Gedichte und Fotos müssen ausgewählt werden, vielleicht muss ich auch noch kürzen. Aber ich habe es abgeschickt und seitdem die Datei nicht ein einziges Mal mehr geöffnet.

Und jetzt?

Seit Montag laufe ich herum wie Falschgeld. Weiß nicht, ob ich müde bin oder wach, ob ich Hunger habe oder satt bin. Manchmal fahre ich in die Stadt und wenn ich da bin, will ich nichts als wieder zurück nach Hause. Es ist nicht so, dass ich Langeweile hätte – zu tun gäbe es eigentlich genug, es ist einiges liegen geblieben in den letzten Monaten.

Ich könnte auch Freunde treffen oder meine Familie besuchen. Ich habe es versucht, zwei Stunden kann ich mit ihnen zusammensitzen, dann stehe ich ganz plötzlich ungeduldig auf und sage: „Ich muss nach Hause“. Und fahre zurück, um dort orientierungslos durch die Wohnung zu laufen. Manchmal fange ich einen Film an und spule nach einer Minute zum Ende. Manchmal ersteigere ich etwas im Internet und räume es auf den Dachboden, wenn es ankommt.

Ist das immer so, wenn man ein lang ersehntes Ziel erreicht? Dass man auf einmal den Weg verliert, die ganze Orientierung? Wie geht es Bergsteigern, die einen Gipfel erreicht haben? Sie würden doch in meinem Zustand niemals das Basislager erreichen…

Ich weiß auf einmal gar nicht mehr, wohin. So auf allen Ebenen. Ich zweifle sogar, ob ich in Hamburg bleiben möchte – und wenn nicht? Wohin dann?

Conrad, der Fels an meiner Seite, sagt, mich zu beobachten sei „ein Schauspiel“. Er sagt auch: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Ich glaube, damit hat er Recht (ausnahmsweise mal). So lange, bis ich Ruhe und Kraft wiedergefunden habe, werde ich also noch durch die Gegend stolpern.

Sollten Sie, liebe Reisegefährten, einmal auf eine orientierungslose Rezitatorin ohne Rad und Koffer treffen, dann drücken Sie ihr doch netterweise einen Milchkaffee mit etwas Honig in die Hand, der geht immer. Rufen Sie die 3 in der Kurzwahlliste ihres Handys an, jemand wird sie abholen. Wenn Ihnen langweilig wird, fragen Sie sie doch nach einem Gedicht. Nur um eines bitte ich Sie:
Fragen Sie mich auf gar keinen Fall, wo ich hinwill!

 

lichtung

manche meinen
lechts und rinks
könne man nicht velwechsern
werch ein illtum

Ernst Jandl

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